2023–06–23T11:20:00GMT+0200
Rahel

Der Grosse Mittelberg ist die grösste Alp im Sigriswiler Justistal. Dort treffen sich der Alpkäsereiberater Rudolf Zeller und die Filmemacherin Rahel von Gunten zum Austausch. Obwohl Rahel in Zürich aufwuchs, hatte sie über ihren Vater, der ein Sigriswiler ist, ihr Leben lang einen engen Bezug zu diesem Ort und die Faszination für die Berge wohl auch in die Wiege gelegt bekommen. Rudolf Zeller lebte und arbeitete sein Leben lang in Sigriswil. Seinen ersten Alpsommer verbrachte er im Justistal. Bei einem Glas Weisswein und vor allem einem grossen Stück Alpkäse berichten sie einander von ihren Lebenswelten.

Rahel und Ruedu

Rahel von Gunten und Rudolf Zeller beim Gespräch.

Alp

Blick auf die Alp­hütte Grosser Mittelberg im Justistal im Kanton Bern.

«Bereits als Junge war ich Brotbube im Justistal. Das bedeutet, dass wir jeweils am Samstag beim Beck das Essen geholt haben.»

Rahel von Gunten: Ich war als Kind schon immer beim Matti-Chehr in Aeschlen in Sigriswil in den Ferien. Da ich in einem doch eher urbanen Umfeld in Zürich aufgewachsen bin, habe ich es sehr geschätzt, wenn ich bei meinem Onkel Kurt auf dem Betrieb mitarbeiten und ihn im Sommer ins Justistal und am Ende des Alpsommers an den berühmten Chästeilet begleiten durfte. Die lebendigen Traditionen haben mich sehr beeindruckt und irgendwie auch durch mein ganzes Leben begleitet.

 

Rudolf Zeller: Ich bin in Sigriswil auf Husen geboren. Wir sind fünf Geschwister gewesen. Bereits als Junge war ich Brotbube im Justistal. Das bedeutet, dass wir jeweils am Samstag beim Beck das Essen geholt und mit der Hutte und auf dem Velo ins Tal gebracht haben. Der Speiseplan war damals nicht sehr üppig. Zwei Brote und ein Kilo Hörnli war alles, was sie nebst der Milch und dem Käse von der Alp gegessen haben. Einmal haben wir einem alten Mann, der als Senn im Tal war, eine Büchse Ravioli gebracht. Die konnte er gut beissen. Von da an wollte er immer Ravioli haben.

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Senn Beat Santschi

Senn Beat Santschi lehnt sich beim Käsen tief ins Chessi.

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Der Käse wird ins Järb gepresst.

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Das Trölen vom Käse am Chästeilet ist ein altes Ritual.

Rudolf Zeller: Als ich aus der Schule kam, hatten sie Personalmangel im Justistal. Ich hatte noch nicht entschieden, was ich lernen will, und so habe ich 1964 bereits den ersten Sommer im Justistal verbracht. Da war ich im Püfel, das ist die dritte Alp, wenn man ins Tal hineinfährt. 1965 kam ich dann in den Grossen Mittelberg, wo wir heute sitzen. Hier ist der Käser verunglückt, und ich musste spontan einspringen. Zu dritt haben wir 50 Kühe gemolken, standen dann vor 1000 Litern Milch und wussten, dass jetzt einfach einer von uns käsen muss. Das war dann ich. Da war ich 17 Jahre alt. 

 

Danach habe ich 14 Sommer als Älpler verbracht und elf davon habe ich gekäst. 53 Sommer habe ich Teilzeit mit der Alpwirtschaft zu tun gehabt. 1969 habe ich noch die Winterschule am Hondrich gemacht. Das ging in Richtung Alpwirtschaft. Daraufhin wurde ich angefragt, ob ich Alpkäsereiberater werden möchte. Von da an bin ich selbst nicht mehr z Bärg gegangen, habe daheim selbst buuret und dann eben 39 Sommer lang als Alpkäsereiexperte und noch 28 Jahre lang als Alpkäsereiberater gearbeitet. 

«Die lebendigen Traditionen haben mich sehr beeindruckt und irgendwie auch durch mein ganzes Leben begleitet.»

Ruedu und Rahel

Gemütliches Beisammensein gehört zum Älplerleben dazu.

Mittelberg

1996 wurde die neue Hütte vom Grossen Mittelberg eingeweiht.

Hans Zeller

Hans Zeller, Präsident der vereinigten Alpgenossenschaften, fährt mit seiner Familie am Chästeilet ins Tal hinein.

«Es gibt immer wieder Menschen, die meinen, sie kommen auf die Alp in die Ferien und dann nach 14 Tagen überlastet sind.»

chästeilet
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Rahel von Gunten: Das klingt spannend.

 

Rudolf Zeller: Ja, das war eine interessante Zeit. Ich habe viel über den Käse und seine Eigenschaften gelernt. Besonders auch deshalb, weil ich noch 20 Mal in der Jury der Alpkäsemeisterschaften sass. Als ich 70 wurde, habe ich damit aufgehört. 

 

Rahel von Gunten: Wie hat sich der Käse denn in dieser Zeit verändert?

 

Rudolf Zeller: Heutzutage gibt es vielen sehr guten oder sogar ausgezeichneten Alpkäse. Als ich vor 30 Jahren mit meiner Arbeit angefangen habe, war das noch nicht so. Seither wurden viele Alphütten umgebaut, Technik und Hygiene wurden besser, und auch im Umgang mit den Käsekulturen wurde man fortschrittlicher. Dazu kommt, dass die Leute besser ausgebildet werden, bevor sie auf die Alp gehen. Jeden Frühling finden zum Beispiel in der Landwirtschaftsschule Hondrich Kurse fürs Käsen statt. Die sind immer sofort ausgebucht. Das hilft auch, dass die Menschen, die einen Sommer auf einer Alp verbringen wollen, ein etwas realistischeres Bild davon haben. 

Chästeilet

Rahel von Gunten: Aber du findest das Leben auf der Alp schon auch romantisch, oder? 

 

Rudolf Zeller: Oh ja. Sehr.

 

Rahel von Gunten: Ich habe diese Sehnsucht nach der Alp auch tief in mir drin. Sobald ich auf einer Alp ankomme, fühle ich mich wohl. Ich werde ruhig und bin glücklich. Bei mir ist es wohl vor allem die Natur, die mir so viel bedeutet. Es lässt sich auf so kleinem Raum so viel erleben. Die Natur, die saftigen Wiesen, die Tiere, die Landschaft. Darum ist die Alp für mich ein Ort, der mir sehr viel bedeutet, und darum möchte ich das den Menschen auch zeigen und ihnen zugänglich machen. Die Reaktion auf die Filme ist oft so, dass die Leute sehr berührt sind und die Sehnsucht ebenfalls spüren. Ich glaube, es ist so etwas Ursprüngliches und Natürliches, das jeder Mensch über Generationen schon erleben konnte und in sich trägt. Das Bedürfnis, in der Kraft der Natur anzudocken, tragen wir doch alle in uns.

 

Rudolf Zeller: Trotzdem darf man die Arbeit auf einer Alp nicht unterschätzen. Es gibt immer wieder Menschen, die meinen, sie kommen auf die Alp in die Ferien und dann nach 14 Tagen überlastet sind. Das ist dann mein schwerer Job, ihnen zurechtzuhelfen. Genau in solchen Momenten bin ich eingesprungen. Manchmal ging es danach, manchmal aber auch nicht. Dann waren die Leute weg, das Vieh war trotzdem da, und die Landwirte, die ihre Tiere auf die Alp gebracht hatten, mussten die Arbeit übernehmen. 

 

Rahel von Gunten: Aber die Alpwirtschaft ist für ein Land wie die Schweiz doch enorm wichtig?

 

Rudolf Zeller: Definitiv. Für mich ist der Alpkäse eine Wertschöpfung. Das sollte man den Menschen näherbringen. Der Alpkäse ist zum Beispiel sehr gut fürs Herz. Wenn ich das jeweils erzähle, sehen die Menschen so ein Stück Käse mit ganz anderen Augen an und sind begeistert davon. Viele sind sich auch nicht bewusst, dass Bergbauern ihre Kühe zur Alp bringen müssen, damit sie den Sommer über Winterfutter produzieren können. Von meiner Arbeit her kenne ich un­zählige Landwirtschaftsbetriebe, und die machen das alle so, sei das im Simmental, im Saanenland, in Habkern oder teilweise sogar im Emmental. Auch Landwirtschaftsbetriebe, die auf Mutterkuhhaltung umgestellt haben, schicken ihre Tiere auf die Alp. Diese Tiere werden nicht gemolken. Da immer mehr Mutterkühe gehalten werden, besteht an gewissen Orten schon fast das Problem, dass die Alpkäsereien zu wenig Milch haben. Zusätzlich ist die Alpwirtschaft so wichtig, weil damit das Berggebiet gepflegt wird.

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«Der Alpkäse ist zum Beispiel sehr gut fürs Herz. Wenn ich das jeweils erzähle, sehen die Menschen so ein Stück Käse mit ganz anderen Augen an und sind begeistert davon.»

rahel und rüedu

Rahel von Gunten: Genau diese Beobachtung habe ich bei meinen diversen Filmprojekten, egal ob in der Schweiz oder zum Beispiel im Allgäu, auch gemacht. Die Heraus­forderungen sind überall ähnlich. Gerade im Allgäu ist zum Beispiel der Wolf ein grosses Thema, weil er eine Bedrohung für Ziegen und Schafe ist. Die Älpler möchten, dass man ihn schiessen darf. Die Naturschützer wollen das nicht. In unseren Filmprojekten haben wir versucht, das sachlich darzustellen, aber die Älpler auch erklären lassen, warum diese Situation für sie belastend ist.

 

Rudolf Zeller: Im Justistal sind es eher die Hirsche, die Probleme machen. Sie fressen das Gras bereits vor den Kühen und richten Landschaden an. Sie sind auch nicht zum Abschuss freigegeben, und das wenige, was vom Kanton als Entschädigung gezahlt wird, reicht eigentlich nicht aus.

 

Rahel von Gunten: Das ist auch einer der Gründe, warum ich die Filme über die Alpen machen will. Sie bieten eine Diskussionsgrundlage. Plötzlich fangen sich die Leute nach dem Kinobesuch an Gedanken zu machen und ver­stehen, wie komplex diese Welt ist.

 

Rudolf Zeller: Wie bist du eigentlich zum Filmemachen gekommen? 

 

Rahel von Gunten: Ich bin als Kind oft hier im Justistal auf der Alp gewesen. Nachdem ich Lehrerin geworden war, hatte ich das Gefühl, dass ich noch die Bäuerinnenschule besuchen möchte. Danach habe ich mich entschieden, im Sommer selbst auf die Alp zu gehen, und war in Bivio am Julier und habe dort einem Bergbauern beim Käsen geholfen. Dort konnte ich so richtig als erwachsene, junge Frau in diese Welt eintauchen. Ich habe gemerkt, dass sie mir sehr gefällt und mich zufrieden macht, obwohl die Arbeitstage lang und hart sind. Danach ging ich wieder zurück, arbeitete als Lehrerin und habe noch ein Studium als Heilpädagogin gemacht. Ich entschied mich, als Masterarbeit einen Film zu machen. Da ich das Wissen nicht hatte, wie man einen Film produziert, bin ich auf die Suche nach einem Filmemacher gegangen. Ich habe einen gefunden, der zuvor bereits Filme realisiert hat, und weil die Zusammenarbeit so gut war, haben wir entschieden, weiter gemeinsam zu arbeiten. Dann bin ich einfach mit ihm mit. Ich habe vor allem Interviews gemacht, Drehbücher geschrieben, Termine vereinbart, und die ganze Technik hat der Kameramann gemacht. Irgendwann dachte ich, dass ich noch mehr in diese Materie eintauchen möchte, und habe in Bern an der Kunsthochschule einen CAS in Dokumentarfilm absolviert. Seither bin ich in dieser Welt unterwegs und finde es wunderschön. 

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Rudolf Zeller: Kann man davon leben?

 

Rahel von Gunten: Ich arbeite nebenbei immer noch als Heilpädagogin. Dazu kommt das Geld aus der Film­förderung und diverse Filmprojekte, die wir als Auftragsarbeiten zum Beispiel für Werbungen realisieren.

 

Rudolf Zeller: Und wie filmt man auf einer Alp ohne Strom?

 

Rahel von Gunten: Das kann herausfordernd sein. Wenn die Alp keinen Strom hat, müssen wir immer wieder nach einer gewissen Zeit ins Tal, um unsere Akkus zu laden. Aber mittlerweile gibt es ja auch viele Alpen mit Strom, die sogar mit dem Auto erreichbar sind. So habe ich schon viele Alpen kennengelernt. Eine meiner liebsten ist die Engstligenalp ob Adelboden, weil ich die gut kenne und auch die Menschen dort sehr gerne mag. Und dann fühle ich mich auch im Alpstein sehr wohl. Die Altenalp ist wunderschön, von der  aus man auf die Seen und den Säntis rübersieht. Und sonst bin ich ein Mensch, der auch im Ausland sehr gerne in den Bergen wandern geht und sich umschaut, was es für schöne Plätze gibt. Welches ist deine liebste Alp?

 

Rudolf Zeller: Ich kenne 550 Alpen im Berner Oberland vom Hasliberg bis ins Saanenland. Für mich ist Burgfeld in Beatenberg eine der schönsten Alpen überhaupt. Die Aussicht dort ist sehr schön, und lange Zeit hatte ich dort auch immer Tiere zum Sömmern. Sobald man Tiere auf einer Alp hat, ist man in Gedanken den ganzen Sommer über dort. An was denkst du, wenn du an die Alpen denkst?

 

Rahel von Gunten: Für mich war ein besonderer Moment auf der Alp im Allgäu, als wir im Sommer um sechs Uhr im Sonnenaufgang mit den Sennen Zmorge gegessen haben und einen Teil der Familie sein durften. Dann haben wir langsam angefangen zu filmen, sie haben gekäst, und wir durften alles mit der Kamera festhalten. Dieses Gefühl, der Austausch und das Zusammensitzen finde ich wunderschön. Ich glaube, dass man darum den Menschen aus der Stadt, die so Sehnsucht haben und sich selbst wiederfinden möchten, ruhig empfehlen sollte, eine Wanderung auf eine Alp zu machen. Es ist ein Ort, wo man Ruhe und Frieden finden kann.

 

Weitere Infos zu den Filmen von Rahel von Gunten:
extramilefilms.com

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