2023–12–15T10:00:00GMT+0100

«Von der viel beschworenen
Mensch-Tier-­Beziehung halte ich wenig.»

Aida aus Verdis Oper stirbt einen tragischen Tod. Eingemauert bei lebendigem Leib. Auch Bizets Carmen kommt um. Erstochen.

Nach diesen tragischen Heldinnen benennt Nils Müller seine Rinder. Und ihrem Tod wohnt eine gewisse Tragik inne, wie er selbst sagt. Der Bauer, Jäger und Metzger tötet sie selbst.

Am Abend, bevor es so weit ist, geht er durch den Stall. Dann ist er ganz Bauer. Ganz bei seinen Tieren. Darauf folgt immer eine unruhige Nacht. Für ihn. Die Tiere wissen nicht, was kommt. Die schwarzen Anguskühe gehen am nächsten Morgen wie gewohnt auf die Weide. Müller besteigt derweil den nahe der Weide extra aufgebauten Hochsitz. Und er wartet. Bis ein Tier ihn frontal anschaut. Sein Herz bleibt stehen. Er legt den Bauer in ihm ab, ebenso Mitgefühl und Leid. Er wird zum Jäger und nur eins ist wichtig. Er muss sauber schiessen. Das Tier darf nicht verletzt überleben. Ist er unsicher oder bewegt sich das Tier, lässt er den Zeigefinger lang, wie er sagt. Stimmt alles, ist es seine Pflicht, abzudrücken. Er, seine Frau und die Angestellten leben vom Fleisch der Tiere. Alles hängt davon ab, dass er sauber schiesst. Also tut er es. Ist es vorbei – in 99 Prozent der Fälle gelingt es ihm, beim Tier mit dem ersten Schuss den Hirntod herbeizuführen – atmet er auf. 

Mutterkuh La Bohème mit ihrem Kalb Rodolfo.

Wenn das Tier den Schuss zwischen die Augen bekommt, bricht es zusammen. Die Kühe und Kälber in der Herde schauen kurz auf. Dann wenden sie sich wieder dem Gras zu und weiden weiter.

Das ist einer der Gründe, weshalb Nils Müller und Claudia Wanger vor über 15 Jahren zur Überzeugung kamen, dass Hof- und Weidetötung die beste Form der Tötung ist. Er will die Tiere entsprechend ihrer Natur halten. Sie sollen ein artgemässes Leben haben. Sie sollen in der Herde ungestört ihre Hierarchien leben können. Ohne dass Bauer und Bäuerin zu sehr in Erscheinung treten. «Von der viel beschworenen Mensch-Tier-Beziehung halte ich wenig.» Viel lieber wolle er Tiere beobachten wie ein Jäger. Und sie dann töten, ohne dass sie es erwarten, ohne dass das Herdengefüge gestört wird. Die anderen sehen, dass das Tier stirbt. Laut Müller verstehen sie, dass es nun weg ist. Es verschwindet nicht auf unerklärliche Weise und kommt nie wieder.

Nicht nur für die umstehenden, sondern auch für das betroffene Tier bedeutet diese Art des Sterbens weniger Stress. In einem Moment lebt es, im anderen ist es tot, ohne dass es davor eine Veränderung bemerkt.

Weidetötung-Pio­niere: Claudia Wanger und Nils Mülller.

Den Stress in der Nase

Normalerweise werden Tiere, die geschlachtet werden sollen, von der Herde getrennt und lebend transportiert, bis sie im Schlachthof sind. Dort warten sie auf ihren Tod. Das wissen sie zwar nicht. Sie haben keine Vorahnung, kein Gespür fürs Sterben. Aber die Fahrt dorthin ist ungewohnt, ebenso die andere Umgebung im Schlachthof. Dort hören sie zudem, wie die anderen Tiere rufen und riechen ihren Stress. Das alles verursacht auch in ihnen Stress, was sie wiederum den nächsten Tieren kommunizieren.

Das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl) stellte in einer Studie fest, dass der Wert des Stresshormons Cortisol bei Tieren, die im Schlachthof getötet wurden, stark erhöht war, während die Werte im Blut der Tiere, die auf dem Hof starben, «nahezu normal waren». Da Kühe wie einige andere Wirbeltiere mit dem «Jacobsonschen Organ», einem «zusätzlichen Riechorgan, ausgestattet sind», erscheint es laut dem Fibl tatsächlich als möglich, dass sie das Cortisol in den Ausscheidungen und im Blut der anderen Tiere riechen und ihr eigenes Stresslevel dadurch steigt.

Der Bauer und Jäger auf seinem Hochsitz.

Die Entblutung des Tiers dauert drei bis fünf Minuten.

Die Edelstücke der zwölfjährigen Anguskuh Carmen, drei Monate am Knochen gereift.

45 Minuten haben Bauern und Metzger Zeit. Bis dann muss das tote Tier aus hygienischen Gründen ausgeweidet worden sein.

Der Stress, den die Tiere vor und bei der Schlachtung erleben, ist nicht nur schlecht fürs Tierwohl, er kann sich gemäss Studien auch negativ auf die Fleischqualität auswirken.

Nils Müller steht nun am Rand der Angus-Weide und blickt zu der Herde, während er erzählt. Vom Moment, in dem das Tier zusammenbricht. Dann läuft er zu ihm, kniet nieder, fährt ihm durchs Fell und drückt mit dem Finger auf den Augapfel, um zu sehen, ob es wirklich betäubt ist. Lief alles nach Plan, ist das Tier hirntot, sein Herz schlägt aber in der Regel noch. Manchmal sagt Müller an seiner Seite noch etwas. Oder er singt. Dann muss es schnell gehen. Der Körper des Tiers wird aufgehängt, bis er ausgeblutet ist und sein Herz stillsteht. Dann kommt es in den nächsten Schlachthof. 45 Minuten haben Bauern und Metzger Zeit. Bis dann muss das tote Tier aus hygienischen Gründen dort ausgeweidet worden sein.

Das ist eine Auflage, die seit 2020 im Gesetz steht. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen hat sie erlassen. Nicht zuletzt auf Drängen von Müller. Das kam so. Er ist gelernter Bauer, hatte aber keinen Betrieb. Wanger war dagegen nicht Bäuerin, hatte aber einen Hof auf der Forch im Kanton Zürich entdeckt. Die «Chalte Hose». Eine Freundin brachte sie mit Nils zusammen. «Du hast einen Hof, aber keinen Bauer, er ist Bauer und hat keinen Hof», habe sie gesagt. «Es war ein bisschen wie bei Bauer, ledig sucht», sagt Wanger und lächelt. Sie geht weg von der Weide über den idyllisch von alten Gebäuden umgebenen Hofplatz. Es passte zwischen ihnen. Beide waren sie schnell überzeugt, dass sie Tiere halten wollten und dass sie sie auf dem Hof töten wollten.

Claudia Wanger und Nils Müller beim Kuttelnputzen.

Es war ein langer, steiniger Weg, bis sie als Erste in der Schweiz eine Sonderbewilligung vom Veterinäramt des Kantons Zürich für Weidetötung erhielten. Mit der Unterstützung von Tierschutzorganisationen und von Eric Meili vom Fibl konnte die oben zitierte Studie durchgeführt werden. Sie gründeten die IG Hof- und Weidetötung und schafften es mit anderen Bauern, Organisationen und Politikern zusammen, dass im Jahr 2020 das Bundesgesetz zugunsten der Hof- und Weidetötung geändert wurde. 

Da der Schütze für die Weidetötung ein Jagdpatent haben und zusätzliche Auflagen erfüllen muss, praktizieren in der Schweiz momentan lediglich fünf Betriebsleiter Weidetötung. Gemäss Müller sind es um die 200 Betriebe, die dagegen auf Hoftötung setzen. Dafür wird das Tier in ein Fanggitter gelockt und mit einem Bolzenschuss in die Stirn betäubt. In direktem Kontakt mit den Menschen. Danach läuft das Verfahren gleich ab wie bei der Weidetötung.

 

Teures Fleisch

Müller sitzt mittlerweile in der grossen Stube an einem langen Tisch, über ihm hängen Kronleuchter, auf den Bänken liegen violette Bilder, an der Wand hängt ein grosses Bild mit gemalten Löwen und einem nackten Menschen, der die Hände zum Gebet gefaltet hat und nach oben blickt. In der Luft liegt ein Duft von geschmortem Fleisch und Bratensauce.

Am Abend werden an diesem Tisch Leute tafeln. Müller hat nicht nur die Ausbildung zum Landwirt und Metzger gemacht, sondern auch die Hotelfachschule. Zudem haben er und Wanger Erfahrungen in der Gastronomie. Sie vermarkten das Fleisch ihrer Tiere nicht nur über ihren Hofladen, sie servieren es auch an Tavolatas an Gäste. Dabei gibt es, «was auf den Tisch kommt», wie Müller sagt. Also auch weniger edle Fleischstücke und Innereien. Die Preise in der «Chalten Hose» sind hoch. Konsumentinnen und Konsumenten müssen bereit sein, für diese Form der Haltung und der Schlachtung Geld zu bezahlen.

Das ist nicht nur bei der «Chalten Hose» so. Hoftötung kostet. In der Regel haben Bauern keine Bewilligung und Vorrichtungen dafür. Sie engagieren deshalb eine Firma – in der Schweiz gibt es mittlerweile zwei, die diese Dienstleistung anbieten. Diese fahren mit speziellen Vorrichtungen auf die Höfe, geben dem Tier den Bolzenschuss und bringen es mit einem extra dafür angefertigten Transporter zum nächsten Schlachthaus. Das ist aufwendig und lohnt sich nur, wenn die Bäuerinnen und Bauern das Fleisch danach selbst vermarkten und den Mehraufwand über den Preis wieder reinholen können.

Die Mutterkuh­herde auf der Alp im Muotatal.

Konsumentinnen und Konsumenten müssen bereit sein, für diese Form der Haltung und der Schlachtung Geld zu bezahlen.

Hinzu kommt, dass die Zeit vom Bolzenschuss bis zum Eintreffen im nächsten Schlachthof begrenzt ist. Nicht alle Betriebe liegen nah genug an einem Schlachthof.

Hof- und Weidetötung ist aus diesen Gründen eine kleine Nische. Es sind eben die rund 200 Betriebe, die auf diese Art der Tötung setzen. Zum Vergleich: Schon der Verein der Mutterkuhhalter, Mutterkuh Schweiz, zählt 6000 Mitglieder, von denen der grösste Teil ihre Tiere klassisch schlachten lässt.

Müller und Wanger setzen sich aber dafür ein, dass mehr Betriebe die Möglichkeit haben, Hoftötung zu praktizieren. Sie konnten dieses Jahr ein kleines Schlachthaus in der Forch erwerben. Wangers Landmetzg, haben sie es genannt. Sie bieten als Dienstleister Hof- und Weidetötungen für andere Höfe an. Ist das Tier in der Metzgerei ausgenommen, können es die Bauern zurücknehmen, oder die Landmetzg nimmt es ihnen ab, verarbeitet es weiter und verkauft es an Läden und Restaurants. Sein eigenes Fleisch verarbeitet Müller auch dort, vermarktet aber alles in seinem Hofladen oder über sein eigenes Gastronomieantebot. Durch diesen neuen Schlacht­hof haben laut ihm mehr Betriebe in der Region die Möglichkeit zur Hoftötung bekommen.

Ehrfurcht vor dem Leben

Mit der IG Hof- und Weidetötung, in der Müller zusammen mit einem anderen Hoftötung-Pionier, Georg Blunier, Präsident ist und in der auch Eric Meili vom FibL als Sekretär mitwirkt, setzen sie sich dafür ein, dass noch mehr Betriebe Zugang zu dem Verfahren bekommen. Indem sie dafür kämpfen, dass die 45 Minuten, in denen die Bauern mit den getöteten Tieren beim nächsten Schlachthof sein und die Tiere ausgenommen sein müssen, auf 90 Minuten erhöht werden. Das wäre gemäss Studien aus hygienischer Sicht unbedenklich. In der EU beträgt die Zeit sogar 120 Minuten.

«Wir lieben unsere Tiere, deshalb töten wir sie selber. Auge in Auge – in Ehrfurcht vor dem Leben.»

Fleischvögel mit Rüebli, Knollen­sellerie und Lauch.

Meili ist überzeugt, dass die Hoftötung in einigen Jahren aus ihrer Nische kommen wird. «Wenn die Grossverteiler einsteigen und eine entsprechende Linie anbieten, wird es so weit sein», sagt er. Er glaubt, dass es eine Kundschaft dafür gibt und dass mit etwas Innovationswille die nötige Logistik aufgebaut werden könnte. Pro Tag werden im Schnitt rund 1110 Tiere nach herkömmlichen Methoden geschlachtet, zerlegt und verkauft. Wollte die Hof- und Weidetötung in diesem Umfeld eine Rolle spielen, würde das tatsächlich eine sehr aufwendige Logistik bedingen. Es ist zu bezweifeln, dass sich die Grossverteiler darauf einlassen. Auch Branchenkennerinnen und -kenner sind skeptisch.

Was genau passiert, wird die Zukunft zeigen.

Müller und Wanger lassen sich jedenfalls nicht von ihrer Philosophie abbringen. Für sie kommt nur diese Art der Tierhaltung in Frage. Müller war 20 Jahre lang Vegetarier und ist es noch – ausser, es handelt sich um Fleisch, dessen Geschichte er kennt.

«Wir lieben unsere Tiere, deshalb töten wir sie selber. Auge in Auge – in Ehrfurcht vor dem Leben», sagt er und tönt damit wieder fast so dramatisch wie die Arien aus den Opern, deren Namen seine Kühe tragen.

zurchaltehose.ch

 

Müller und Wanger setzen sich dafür ein, dass mehr Betriebe die Möglichkeit haben, Hoftötung zu praktizieren.


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