Der Aufschwung des Käses in der Schweiz hat viele Gründe. Nicht nur gute. Da waren die Römer, Ordensbrüder, der Papst, aber auch Elend, Krieg und Krankheit. Im Ersten Weltkrieg traf die Branche zudem mit der Gründung der Käseunion eine folgenschwere Entscheidung. Was gut gemeint war, artete aus und bremste die Innovationskraft hiesiger Käser. Zum Glück kommt sie immer mehr zurück.
Schönes und Schweres aus der Geschichte des Schweizer Käses
Text ― Julia Spahr
Bilder ― Attila Janes
«Mit fast 23 kg pro Kopf und Jahr liegen wir über dem Durchschnitt der EU,
der um die 18 kg beträgt.»
Wir sind eine Käsenation. Das lässt sich mit gutem Gewissen behaupten. Nicht nur, weil wir hier viel Käse produzieren. Wir essen auch viel davon. Mit fast 23 kg pro Kopf und Jahr liegen wir über dem Durchschnitt der EU, der um die 18 kg beträgt. 40 Prozent der jährlich produzierten rund 200000 Tonnen Käse werden exportiert. Den Rest essen wir selbst. Und noch mehr. Letztes Jahr musste zum ersten Mal überhaupt mehr Käse importiert werden, als dass wir exportiert haben. Insgesamt 772 Tonnen. Der starke Franken und die wirtschaftliche Entwicklung haben dazu geführt, dass die mengenmässige Handelsbilanz erstmals negativ ausfiel. Das sei aber wenig überraschend, sagt Martin Spahr, Marketingchef von Switzerland Cheese Marketing. Es liesse sich gut am Beispiel von Frischkäse erklären: «Wenn hierzulande jährlich 60000 Tonnen Schweizer Frischkäse produziert und davon noch rund 10000 Tonnen exportiert werden, der Frischkäsekonsum in der Schweiz aber 75000 Tonnen beträgt, so liegt es auf der Hand, dass entsprechend importiert werden muss.»
Milch in Tiermagen
Ganz unabhängig davon, wie man die Zahlen auslegt. Käse gehört zu unserem Land. Und doch fängt seine Geschichte ganz woanders an. Möglicherweise im Nahen Osten, wo Nomadenvölker Schafmägen verwendeten, um Milch zu transportieren. Durch die Bewegung, die Hitze und die im Beutel vorhandenen Enzyme verwandelte sich die Milch in Käse. Eine andere Theorie besagt, dass steinzeitliche Jäger im Magen eines erlegten Kalbs, das kurz davor noch beim Muttertier Milch getrunken hatte, eine gallertartige Masse entdeckten, die sich als geniessbar erwies.
Wie auch immer der erste Käse entstanden ist, sicher ist, dass archäologische Funde, die auf die Jahre um 5000 vor Christus zurückgehen, der Käseherstellung zugeordnet werden können. Aus Überlieferungen weiss man, dass antike Griechen und Römer Käse gegessen haben, und zwar auch schon Labkäse. Er war länger haltbar, liess sich transportieren. Mit ihm konnte deshalb besser Handel getrieben werden. Das war beim Sauermilchkäse anders. Er entstand aus der natürlichen Gerinnung der Milch und musste schnell gegessen werden. Sauermilchkäse wurde damals bereits in verschiedenen Regionen der Alpen aus Ziegen- und Schafmilch hergestellt. Aber erst «mit der Eroberung der Römer von grösseren Gebieten nördlich der Alpen wurde die Kunst des Labkäsens auch in der heutigen Schweiz eingeführt», schreibt der Autor und Food-Journalist Dominik Flammer in seinem Standardwerk «Schweizer Käse».
Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs setzte die Völkerwanderung ein. Grössere Teile der Schweiz wurden ab dem 5. Jahrhundert besiedelt. Dadurch «gewann der Einfluss der Alemannen auch in der Region der Schweizer Alpen die Oberhand und liess die Kunst des Labkäsens in den Hintergrund treten», schreibt Flammer. «Die Alemannen bevorzugten die rückständige Sauermilchkäserei. Die auf die Römer zurückgehenden Handelsnetze verloren an Bedeutung, sodass es den Hirten und Bauern nicht mehr notwendig erschien, transportfähige und länger haltbare Käse zu produzieren.»
Da die Herstellung von Sauermilchkäse weit weniger aufwendig ist und deutlich weniger Fachwissen erfordert, geriet die Labkäserei grösstenteils in Vergessenheit. Vermutlich waren es vor allem die Klöster des Frühmittelalters, die diese Praxis weiter betrieben und Wissen und Technik überlieferten.
Krankheit und Krieg
Bis heutige Schweizer Käsesorten entstanden, dauerte es allerdings noch lange. Dafür waren traurige Gründe nötig wie Krankheit und Kriege. Die Pestwelle im Mittelalter raffte einen Drittel der Bevölkerung dahin. Zudem wanderten Tausende junge Männer aus, um der mühsamen Arbeit in der Landwirtschaft zu entkommen. Sie seien als Söldner in den Kriegsdienst in andere Länder gezogen, ist bei Flammer zu lesen.
«Erst mit der Eroberung der Römer von grösseren Gebieten nördlich der Alpen wurde die Kunst des Labkäsens auch in der heutigen Schweiz eingeführt.»
Es fehlte also an allen Enden an Arbeitskräften. Deshalb stellte man in Alpentälern, wo lange Zeit bis auf 1500 Meter über Meer Getreide angebaut wurde, auf Viehzucht um. In den schweizerischen Alpenregionen erfolgte «vom Pays d’Enhaut im Westen bis zum Toggenburg im Osten ein allmählicher Wandel vom Ackerbau hin zur weniger arbeitsintensiven Viehzucht». Als die Leute mehr Tiere hielten, begann ihr Fleischkonsum zu steigen. «Weit über das heutige Niveau», schreibt Flammer. Auf 400 bis 500 Gramm pro Tag. Dieser Fleischbedarf führte dazu, dass die Zahl der Rinder und Milchkühe in den Alpen unaufhaltsam stieg und dass die Milch zu Käse verarbeitet wurde.
Dass der Käse über die Alpenregionen hinaus bekannt wurde, hat mit den Fastenregeln des Papsts zu tun. Fisch und Olivenöl durfte während der Fastenzeit gegessen werden. Käse und Butter aber nicht. Das störte die Menschen in den nördlichen Gegenden Europas ab dem 15. Jahrhundert zusehends. Hatten sie Letzteres doch im Übermass zur Verfügung, Ersteres jedoch nicht. Also baten die hungrigen Menschen den Papst um eine Ausnahmeregelung, die in den meisten Fällen gewährt wurde. «Nach und nach wurden in grossen Teilen der Schweiz Butter und Käse betreffende Fastenregeln aufgehoben», so Flammer. Mit der Reformation wurden die Fastenregeln erst recht abgeschafft. Im nördlichen Europa begann man deshalb immer mehr Milchprodukte zu essen. Der Schweizer Käse erzielte im Export in die Nachbarländer stattliche Preise, er war beliebt und der vitaminreiche Schweizer Hartkäse soll sogar als Proviant für holländische und französische Seefahrer auf ihren Reisen über die Weltmeere gedient haben. Die Beliebtheit führte dazu, dass weitere Gebiete der Schweiz auf die Käserei umzustellen begannen.
Aber auch die Pest hatte erneut Einfluss auf die Verbreitung des Labkäses. Da Arbeitskräfte rar waren, wurden die, die da waren, gut bezahlt und konnten sich qualitativ hochwertige Lebensmittel wie eben guten Käse leisten. Trotzdem hatte die Verbreitung dieses Käses noch einen langen Weg vor sich. Mit dem Dreissigjährigen Krieg (1618–1648) erlebte die Schweizer Käseproduktion wieder einen Rückgang.
GOLDRAUSCHSTIMMUNG BEI DEN KÄSERN
Den richtig grossen Aufschwung erlebte der Schweizer Käse während der Vorindustrialisierung um die Wende zum 19. Jahrhundert. Während bis dahin vor allem auf Alpen Käse produziert wurde, begannen sich allmählich Talkäsereien herauszubilden. Die bedeutendste war die 1815 eröffnete grosse Talkäserei von Kiesen bei Thun. «Ihr Erfolg läutete jenen der Flachlandkäsereien so richtig ein», schreibt Flammer. Es wurden Hunderte von neuen Talkäsereien gegründet. «In enormen Tempo löste auch im Mittelland die Milchwirtschaft die jahrhundertealte Tradition des Ackerbaus zu grossen Teilen ab», so Flammer. Zudem wurden landwirtschaftliche Fachschulen gegründet. Durch die Forschung gewann man Erkenntnisse über Futterbau und Aufzucht von Schweinen und Rindern, was zu steigenden Erträgen in der Fleisch- und Milchwirtschaft führte.
Im 19. Jahrhundert brach in der Schweiz das eigentliche «Käsefieber» aus. Vor allem im Emmental. Zwischen 1850 und 1870 «nahm im Durchschnitt fast monatlich eine neue Käserei ihre Kessel in Betrieb. Die Milchproduktion explodierte förmlich», so Flammer. Käse machen lohnte sich und griff um sich. Aber es ging «weit über das wirtschaftlich gesunde Mass hinaus». Während im Flachland die Zahl der Käsereien immer grösser wurde, erlebten auch die Alpkäsereien einen gewissen Aufschwung. «Denn in den stark industrialisierten Alpgebieten wie im Glarnerland, im Appenzell oder im Toggenburg stieg die Nachfrage nach Milch, Butter und Käse unaufhaltsam», schreibt Flammer.
Grosser Crash und «verheerende» Käseunion
Der Aufschwung hielt an bis zum Wiener Börsencrash 1873. Viele Käsereien gingen darauf Konkurs, und Käser wanderten aus. Ins Allgäu, ins französische Zentralmassiv, nach Russland, Finnland, die USA usw. Weil sie ihr Wissen in diesen Gegenden weitergaben, gibt es noch heute zum Beispiel den Allgäuer Emmentaler oder in Frankreich den Comté, auch «Gruyère de la Comté» genannt.
Einen folgenschweren Einschnitt erlebte der Schweizer Käsemarkt im Ersten Weltkrieg. Mit ihm endete die freie Käsemarktwirtschaft. Aus der Not des Krieges wurde die Schweizerische Käseunion gegründet. Ihre Mitglieder waren die organisierten Käseexporteure, Milchproduzenten, Käser und die im Verband Schweizerischer Konsumentenvereine (VSK, heute Coop) zusammengeschlossenen Konsumenten.
Sie hatten die «protektionistischen Ziele der Landwirtschaftspolitik umzusetzen», wie Flammer schreibt. Konkret sollten sie die Versorgung der Bevölkerung mit Käse sicherstellen und den Export organisieren. Die Gewinne aus dem Export wurden zur Deckung der Mehrkosten genutzt, die in der Produktion von Milch wegen der kriegsbedingten Teuerung anfielen. So gelang es, den Preis, den Konsumentinnen und Konsumenten für Trinkmilch bezahlen mussten, weit unter dem Weltmarktpreis zu halten. Das sei aus «historischer Perspektive in gewissem Mass nachvollziehbar», schreibt Flammer. «Galt es doch, die Bauern zu schützen und die Landesversorgung zu sichern.» Mit der Zeit entwickelte sich die Schweizer Käseunion jedoch zunehmend zu einer Marketing- und Handelsorganisation und baute ihren Einfluss fortlaufend aus. Sie vergab den Käsern etwa Kontingente für die Produktion einer festgelegten Menge und garantierte dafür deren Abnahme zu einem fixen Preis. Die Käser profitierten von der Abnahmegarantie, konnten aber nicht mehr selbst bestimmen, wie sie ihre Milch verwerteten. Es wurden deshalb hauptsächlich noch die «Unionskäse» Emmentaler, Greyerzer und Sbrinz hergestellt. «Für die Produktion anderer Sorten brauchte es eine spezielle Bewilligung vom Bund, ausserdem wurden diese nicht von der Käseunion vermarktet und erhielten auch keinen offiziellen Genehmigungsstempel. Zu allem Übel war der Zoll auf Nicht-Unionskäse so hoch, dass sich sein Export nicht lohnte. Böse Zungen der internationalen Presse bezeichneten die Käseunion deshalb als ‹Swiss Cheese Mafia›», schreibt die Politikwissenschaftlerin Justine Emmenegger. Flammer bezeichnet die Konsequenzen dieser «verheerenden Käse-Planwirtschaft» als «fatal».
«Neuerungen wurden ausgebremst und Käsetraditionen zu einem Nischendasein verdammt oder gar ausgelöscht.» Die Beschränkung der garantierten Verwertung auf wenige Hartkäsesorten unter der Aufsicht einer zentralistischen Organisation habe die «Käsenation über Jahrzehnte gelähmt», schreibt er. Ausserdem mussten Schweizerinnen und Schweizer mit zweitklassiger Ware vorliebnehmen, weil «ein ansehnlicher Teil der ersten Qualität an Schweizer Käse mit milliardenschweren Exportsubventionen ins Ausland verhökert wurde», so der Autor von «Schweizer Käse».
«Erst als der ‹Käsemoloch› endlich aufgelöst und die Käseunion 1999 abgeschafft wurde, begann die Branche langsam wieder zu erwachen.»
Wiedererwachte Innovation
Erst als der «Käsemoloch», wie Flammer ihn nennt, endlich aufgelöst und die Käseunion 1999 abgeschafft wurde, begann die Branche langsam wieder zu erwachen. 1998 wurde die Switzerland Cheese Marketing AG als neue Dachorganisation der Schweizer Käsebranche gegründet. Sie fördert den Absatz von Schweizer Käse im In- und Ausland und versteht sich als Nachfolgeorganisation der Käseunion. Sie kümmert sich aber lediglich um Marketing- und Kommunikationsbestrebungen und greift nicht direkt in den Markt ein. Die Idee bei der Gründung sei gewesen, die «guten Tätigkeiten der Käseunion im Exportmarketing, in der Absatzförderung und Basiswerbung weiterzuführen», wie Martin Spahr von Switzerland Cheese Marketing heute sagt.
Er sitzt in seinem Büro in Bern. An der Wand hängt ein Rucksack. Er ist gelb, und es prangen grosse Käselöcher darauf. Wie einst auf den Anzügen der Schweizer Skifahrer. Diese gehen auf die Zeit der Käseunion zurück. Selbst wenn Switzerland Cheese Marketing auch gute Seiten an der Käseunion sieht, behaupten Kritiker augenzwinkernd, dass das einzig Gute daran diese legendären Skianzüge gewesen seien. Wie dem auch sei. Mittlerweile ist die Käsebranche aus der «Lähmung» der Käseunion aufgewacht, wie Flammer es nennt, und es sind unzählige neue Käsespezialitäten entstanden oder traditionelle Produkte weiterentwickelt worden. Ein paar besonders findige Käserinnen und Käser haben sich einen Namen gemacht. Einer, der für seine Kreationen mittlerweile weit über die Schweizer Landesgrenzen hinaus bekannt ist, ist Willi Schmid aus dem Toggenburg. Er mit seiner engen Beziehung zu den Bäuerinnen und Bauern in seiner Umgebung und vor allem zu deren Kühen wird in diesem Magazin vorgestellt.